"Scheinselbständigkeit" zentrales Thema bei Diskussion über Arbeiten 4.0
Am Donnerstag, den 08.09.2016, fand im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Berlin ein Kamingespräch im Rahmen des Dialogprozesses "Arbeiten 4.0" statt. Bundesministerin Andrea Nahles hatte elf Solo-Selbständige, Gründer und Vertreter von Selbständigen-Verbänden, darunter die IT-Projektgenossenschaft, eingeladen, um mit ihr Einschätzungen und Erwartungen zur Gestaltung der Arbeitswelt und sozialer Sicherung in offener Runde zu diskutieren. Die IT-Projektgenossenschaft eG wurde von ihrem Vorstand Joachim Groth vertreten.
Zum Thema des Abends entwickelte sich die Diskussion um Scheinselbständigkeit. Außer uns berichteten Vertreter von Honorarärzten, Pflegekräften, Designern, Lektoren und Veranstaltungsdienstleistern, wie sehr die Prüfungen der Rentenversicherung ihr Geschäft behindere und Existenzen gefährde. Die Verunsicherung trifft Auftraggeber und Auftragnehmer gleichermaßen.
Bedeutung der "Scheinselbständigkeit" vom Arbeitsministerium unterschätzt
Dass uns das Thema "Scheinselbständigkeit" so wichtig ist, überraschte die Ministerin und ihre Mitarbeiter. Die hatten eher "Rentenversicherung" und "Mindesthonorare" auf ihrer Agenda. Dabei erzählte Frau Nahles selbst, dass der Hamburger Verlag Gruner & Jahr sich erst jüngst von allen freiberuflichen Mitarbeitern getrennt hatte. Verwundert wurde von Vertretern des Ministeriums auch zur Kenntnis genommen, wie viel Halb- und Unwissen zur Scheinselbständigkeit kursieren. Die zuständige Ressortchefin, Britta Loskamp, betonte, dass sich an der gesetzlichen Grundlage doch seit Jahren nichts geändert habe. Dr. Andreas Lutz vom VGSD verwies allerdings darauf, dass die Prüfungspraxis der Rentenversicherung verschärft wurde und heute deutlich mehr Statusfeststellungsverfahren stattfänden als noch vor wenigen Jahren. Zudem sei die Quote der Feststellung von Scheinselbständigkeit von 19 Prozent im Jahr 2006 auf 45 Prozent (2015) gestiegen. "Ja", entgegnete Frau Nahles, "das habe ich selber angewiesen". Die prekären Verhältnisse bei vielen kreativen Solo-Selbständigen und die bedrohliche Schieflage der Künstlersozialkasse (KSK), hätten für sie den Ausschlag gegeben, das Personal bei den Rentenversicherungsprüfern deutlich aufzustocken. Die Nebeneffekte auf andere Branchen, insbesondere die gutbezahlte IT, hatte sie dabei nicht im Blick.
Ressortchefin Loskamp forderte unterdessen die Teilnehmer auf, Vorschläge für eine sinnvolle Unterscheidung von Arbeitnehmern und Selbständigen zu unterbreiten. "Sie glauben gar nicht, wie viele Kriterienkataloge wir in den letzten Jahren schon erarbeitet und wieder verworfen haben", sagte sie. Joachim Groth empfahl, den Kriterienkatalog nicht weiter zu entwickeln. Stattdessen solle jeder, der ein jährliches Mindesteinkommen von X Euro erwirtschafte und Mitglied einer Vertriebsgenossenschaft wie der IT-Projektgenossenschaft sei, automatisch als Selbständig eingestuft werden.
"Das lässt sich ja wohl kaum so in ein Gesetz schreiben", entgegnete ein Referent Nahles. Groths augenzwinkerndes "Warum nicht?" wurde auflockernd zur Kenntnis genommen. Aber ernsthaft: Wir sind der Meinung, kein Kriterienkatalog kann die Realität abbilden. Gut verdienende Selbstständige können aber eigenverantwortlich Vorsorgen. Und das Delegieren von Rechtsangelegenheiten und Verwaltungs- und Vertriebsaufgaben an eine Genossenschaft ist ein sicheres Indiz für eine freiwillige und gewollte Selbstständigkeit.
"Genossenschaft" kommt gut an
Erfreulich aus unserer Sicht war, wie positiv die Runde die Story der IT-Projektgenossenschaft aufgenommen hat. Gerade der genossenschaftliche Ansatz kam hervorragend an: Genossenschaft ist einfach sexy. Erfreulich war auch, wie offen und vielfältig die Runde besetzt war und diskutiert hat. Vom "Staat als knauseriger Auftraggeber" über "berufsständische Versorgungswerke" bis hin zum "bedingungslosen Grundeinkommen" (das Frau Nahles kategorisch ablehnt) kam eine bunte Themenpalette zur Sprache. Auffallend war aber auch, dass die zunehmende Bedeutung von selbständigen Arbeitsformen zwar vom Ministerium erkannt wird, man aber wenig Verständnis für unternehmerische Freiheit und selbstverantwortliche Lebensentwürfe aufbringt. Der Vorschlag, der Staat solle nur für Mindeststandards sorgen, die Selbständigen könnten ansonsten ihre Probleme in Eigenregie und Selbstverwaltung lösen, wurde mit dem Verweis auf prekäre Verhältnisse bei mindestens einer Millionen Soloselbständigen abgewiesen.
Am 18. Oktober wird das Gespräch im Arbeitsministerium fortgesetzt. In Arbeitskreisen sollen dann Themenschwerpunkte vertieft angegangen werden. Wir freuen uns darauf und sind selbstverständlich mit dabei.